Kritik: »Im Westen nichts Neues« (2022)
Ich muss zu meiner Schande ja gestehen, dass ich weder Erich Maria Remarques Roman gelesen, noch die oscarprämierte Filmadaption von 1930 gesehen habe (auch nicht das Remake von 1979 mit Richard Thomas und Ian Holm). Noch schlimmer: Die remasterte Blu-ray-Fassung des Originals steht seit Langem, noch in Plastik eingeschweißt bei mir im Regal. Als ich dann vor einigen Monaten mitbekommen habe, dass gerade Netflix ein Remake bringt, war mein erster Gedanke – aus Gründen – dann auch, »na, das kann ja was werden«.
Dann kam aber von Behaind die erste sehr positive Reaktion und so habe ich mir diese neue Version gleich mit Start auf Netflix angesehen (Netflix brachte den Film zwecks Oscar-Teilnahme Wochen zuvor auch ins Kino). Dabei handelt es sich um eine deutsche Produktion, gedreht in Tschechien mit – wenn man so will – Streaming-Veteran Edward Berger als Regisseur (Episoden von »Deutschland 83« und »The Terror«, aber davor auch »Tatort« etc.).
Man kann wohl gleich vorwegnehmen, dass die Überführung dieses fast schon 100 Jahre alten Antikriegs-Klassikers ins 21. Jahrhundert mehr als nur gelungen ist. Von der ersten Minute an, mit einem sehr direkten Einstieg, packend1, trotz Laufzeit von 148 Minuten ohne Längen und mit (Kino-)Newcomer Felix Kammerer2 als Paul Bäumer wirklich vortrefflich besetzt. Aber auch die restliche Besetzung braucht sich hier nicht zu verstecken, denn z.B. mit Edin Hasanović (»Je suis Karl«) bis hin zur obligatorischen Besetzung von Daniel Brühl überzeugt hier wirklich jeder.
Auch auf technischer Ebene glänzt die Neuverfilmung: Keine (zumindest offensichtlichen) Greenscreen-Fests, wie bei Netflix’ anderen Topproduktionen sonst gang und gäbe, eine (beklemmend) ruhige Bildsprache, die ein wenig an das – sehr gelungene – One-Take-Experiment »1917« von Sam Mendes erinnert. Freilich ohne, und das ist gerade bei dieser Verfilmung extrem wichtig, den visuellen Stil in den Vordergrund zu stellen oder die Action zum Spektakel verkommen zu lassen.
Letztere ist nichtsdestoweniger packend inszeniert und auch wenn meine Kinogeneration bereits mit der Eröffnungssequenz von »Der Soldat James Ryan« ungeschönt mit den Schrecken des Krieges geschockt wurde (zumindest, so wie es das Medium Film erlaubt), so wartet die Inszenierung von »Im Westen nichts Neues« doch mit ein paar Besonderheiten auf:
- Wie im Original von 1930 gibt es keine Musik, bis auf ganz wenige orchestrale Akkorde, die hin und wieder zum Einsatz kommen.
- Hier agieren keine »coolen Typen«, die in Stresssituationen vielleicht auch noch den einen oder anderen Oneliner raushauen. Das wäre inszenatorisch aus Aggressoren-Sicht ohnehin ein filmisches No-go. Aber der Umstand, dass hier Schüler, die – vor allem zu der Zeit – von Krieg und dem davon ausgehenden Leid nichts wussten (ja, noch nicht einmal wirklich im Leben standen), mit voller Euphorie vom Establishment zur Schlachtbank geführt werden, macht deren Schock, deren Ängste und Realisierung, was hier eigentlich passiert, umso dramatischer. Und deren Kameradschaft, weil es sich eben um Schulfreunde handelt, umso glaubwürdiger.
- Es gibt einige sehr gute Sequenzen, welche die Absurdität des Krieges verdeutlichen (minimale Spoiler, sonst überspringen): Z.B. die Transformation eines französischen Soldaten vom »Feind, der einen töten will« zum Familienvater und das daraus resultierende Dilemma für Bäumer. Oder aber auch eine Sequenz, die anhand einer Aneinanderreihung von immer überlegeneren ins Feld geführter Waffen (Granaten, Flammenwerfer, Panzer etc.) zeigt, dass am Schlachtfeld wirklich niemand vor dem Tod gefeit ist.
Alles in allem eine wohl gelungene Neuinterpretation oder, da ich das Original wie gesagt nicht kenne, zumindest ein packender bis erschütternder Antikriegsfilm ohne geschönte Stilelemente oder sympathieweckende Charakterdarstellung3.
- Obwohl, zugegeben, der zu Beginn eingeblendete Name der Produktionsfirma »Amusement Park« zu einer selten großen Text/Bild-Schere führt ↩
- Er ist seit 2019 Ensemble-Mitglied des Burgtheaters. ↩
- Also z.B. Filme wie »Lone Survivor«, die so inszeniert sind, dass die Protagonisten als Helden mit hohem Sympathie- bzw. Identifikationswert dargestellt werden und die somit – trotz komplett gescheiterter Mission – als Werbung fürs (US-)Militär gewertet werden können. ↩
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